Jeannette Behringer
Wie die Europäische Union die aktive Beteiligung der Bürger*innen an demokratischen Prozessen auf europäischer Ebene fördert
Inhalt
Einleitung
Demokratie und Europäische Union
Vertrag von Lissabon - Beginn eines Quantensprungs?
Bürgerkonferenz und Europäische Bürgerinitiativen – Beweise des Quantensprungs?
Ausblick
Endnoten
Autorin
Redaktion
Einleitung
Beteiligung und Teilhabe sind untrennbar mit Demokratie verbunden. Am 15. September wurde weltweit erneut der Internationale Tag der Demokratie gefeiert, den die Vereinten Nationen 2007 ins Leben riefen. Offensichtlich ein notwendiger Tag, denn die Zahl der liberalen Demokratien stagniert bestenfalls. Je nach Erhebungsmethode nimmt die Zahl der Demokratien sogar ab. Der Think Tank Freedom House zeichnet in seinem aktuellen Bericht für Demokratien der Mitgliedsländer der Europäischen Union ein ambivalentes Bild: Während in Ungarn und Polen illiberale Tendenzen anhalten, wurde diesen in Slowenien und Tschechien eine Absage erteilt [1]. Dennoch bleiben die Herausforderungen hoch. Gemäß der größten Untersuchung, »Varieties of Democracy« der Universität Göteborg (V-Dem) [2] sind die Beeinträchtigung unabhängiger Medien, der Zivilgesellschaft sowie der Qualität freier Wahlen die wichtigsten Faktoren, die zur globalen Abnahme liberaler Demokratien auf noch 32 im Jahr 2022 führten. Davon sind auch Demokratien der Mitgliedsländer der Europäischen Union betroffen. Hingegen sieht der Think Tank der Economist Group, genannt Economist Unit Intelligence, keine weitere Verschlechterung demokratischer Qualität weltweit [3]. Insbesondere Westeuropa wird als positives Beispiel für die Wiederherstellung demokratischer Qualität nach der Corona-Pandemie hervorgehoben, nachdem Grundrechte zum Teil erheblich eingeschränkt worden waren.
Demokratie und Europäische Union
Der Blick nach Europa und seine Demokratien bedeutet selbstverständlich ein Blick auf die Europäische Union, der jedoch mit 27 Ländern ein Teil der Länder Europas angehören. Die Entwicklung der demokratischen Qualität der Europäischen Union selbst ist ein andauernder Prozess, der verschiedene Ebenen umfasst und mit großen Herausforderungen verbunden ist, jedoch nicht mit Demokratisierungsentwicklungen eines Landes oder Staates verglichen werden kann. Die EU ist ein Staatenbund, deren Mitgliedsstaaten verschiedene Formen und eine unterschiedliche Qualität repräsentativer Demokratien umfassen, die, wie zum Beispiel in Deutschland auf kommunaler Ebene, durch Instrumente direkter Demokratie ergänzt werden. Inzwischen sind auch in der EU mit Ungarn eine autoritäre Herrschaftsform und mit Regierungen wie in Italien und Polen rechtspopulistische Regierungen oder wie in Finnland rechtspopulistische Parteien an der Macht, die Bürgerbeteiligung zum Teil dazu nutzen, Demokratien auszuhebeln. Das demokratische Prinzip in den Institutionen der Europäischen Union umzusetzen, bleibt eine Baustelle, die jedoch insgesamt geprägt ist durch das Ziel der Entwicklung von einer Vereinigung geopolitischer und wirtschaftlicher Interessen hin zu einer politischen Union. Das Demokratieprinzip gehört neben der Bewahrung der Menschenrechte, von Freiheit und Gleichheit sowie der Rechtsstaatlichkeit zu den Grundwerten der EU. Die Förderung der Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger ist in den jüngeren Verträgen der Europäischen Union als wichtiges Ziel deklariert. Mit dem Vertrag von Maastricht, der im November 1993 in Kraft trat, wurde die Unionsbürgerschaft verankert, die die transnationale Organisation der Bereiche Studium, Arbeit, Reisen, Verbraucherschutz und Gesundheit stärkte. Insbesondere jedoch die Forderung nach einer umfangreicheren politischen Partizipation jenseits nationalstaatlicher Prozesse blieb lange ohne Substanz. Dabei ist eine der wichtigsten Bemühungen, um die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger zu forcieren, die Stärkung des europäischen Parlaments, dem einzigen direkt gewählten Organ der Europäischen Union. Seine Rechte wurden zwar in den Verträgen von Maastricht und Lissabon gestärkt, jedoch liegt die Gesetzgebungsfunktion nach wie vor bei der Europäischen Kommission.
Vertrag von Lissabon - Beginn eines Quantensprungs?
Verglichen mit diesen zaghaften Anfängen ist die Entwicklung seit dem Vertrag von Lissabon, der im Dezember 2009 in Kraft trat, mit der Stärkung des Parlaments und damit der repräsentativen Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger auch auf die Stärkung der Mitwirkung durch deliberative Foren gerichtet. Insbesondere Artikel 11 als Teilbereich der Bestimmung demokratischer Grundsätze fordert Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union wie auch der organisierten Zivilgesellschaft dazu auf, ihre Positionen in den Dialog mit der EU einzubringen [4]: (1) Die Organe geben den Bürgerinnen und Bürgern und den repräsentativen Verbänden in geeigneter Weise die Möglichkeit, ihre Ansichten in allen Bereichen des Handelns der Union öffentlich bekannt zu geben und auszutauschen. (2) Die Organe pflegen einen offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog mit den repräsentativen Verbänden und der Zivilgesellschaft. (3) Um die Kohärenz und die Transparenz des Handelns der Union zu gewährleisten, führt die Europäische Kommission umfangreiche Anhörungen der Betroffenen durch. (4) Unionsbürgerinnen und Unionsbürger, deren Anzahl mindestens eine Million betragen und bei denen es sich um Staatsangehörige einer erheblichen Anzahl von Mitgliedstaaten handeln muss, können die Initiative ergreifen und die Europäische Kommission auffordern, im Rahmen ihrer Befugnisse geeignete Vorschläge zu Themen zu unterbreiten, zu denen es nach Ansicht jener Bürgerinnen und Bürger eines Rechtsakts der Union bedarf, um die Verträge umzusetzen. Die Verfahren und Bedingungen, die für eine solche Bürgerinitiative gelten, werden nach Artikel 24 Absatz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union festgelegt. Es ist nicht überraschend, dass insbesondere in Bezug auf die Absätze 1, 2 und 3 die Debatte um Auslegung und Verständnis andauert. Insbesondere der Europäische Sozial- und Wirtschaftsausschuss EWSA spielt hier eine zentrale Rolle [5]: Aus den langjährigen Entwicklungen, neben der repräsentativen Demokratie auf EU-Ebene auch dialogische Formen sowie die Input-Legitimation der EU zu erhöhen, seien an dieser Stelle zwei Beispiele herausgegriffen: Die Konferenz zur Zukunft Europas sowie die Europäische Bürgerinitiative (EBI), die im Vertrag von Lissabon in Artikel 11 (4) formuliert ist und 2012 umgesetzt wurde.
Bürgerkonferenz und Europäische Bürgerinitiativen – Beweise des Quantensprungs
Die Konferenz zur Zukunft Europas wurde von März 2021 begonnen und endete im Dezember 2022 mit einer Abschlussveranstaltung mit den teilnehmenden Bürgerinnen und Bürgern im europäischen Parlament. Die Konferenz fand auf der Basis des Art. 11 des Lissabon-Vertrags statt und umfasste auf Prozessebene mehrere Ebenen der Beteiligung: Mehrsprachige digitale Plattformen, dezentrale Veranstaltungen auf nationaler und regionaler Ebene, repräsentative Foren von Bürgerinnen und Bürgern auf europäischer Ebene nach Alter, Geschlecht, Bildung und Einkommen sowie Plenarversammlungen, die die Ergebnisse strukturierte und priorisierte. Angestoßen und geleitet wurde die Konferenz durch Vertreter:innen der drei Organe Parlament, Kommission und Rat [6]. Thematisch sollten Fragen berührt werden, die in die Zuständigkeit der Europäischen Union fallen, jedoch grundsätzlich für alle Themen offen sein, die die Teilnehmenden einbringen. Inwieweit die Ergebnisse jedoch die weitere Arbeitsweise der Organe prägen, ist trotz Feedbackkonferenz nicht geklärt. Die Zukunftskonferenz bleibt zunächst ein einmaliges Ereignis, mit dem dennoch versucht wird, die Responsivität der Europäischen Union für Bürgerinnen und Bürger zu stärken. Dennoch verbeiben diese dialogischen Prozesse, um mit Beate Kohler-Koch und Christine Quittkat zu sprechen, auf der Ebene strukturierter Konsultation, die keine strukturellen Veränderungen nach sich ziehen [7]. Und auch der unzureichende Einbezug der organisierten Zivilgesellschaft wurde durch das Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement kritisiert [8]. Die Europäische Bürgerinitiative (EBI), die wie bereits erwähnt, mit dem Lissabon-Vertrag eingeführt wurde, ist hingegen ein strukturiertes Instrument des europäischen Agenda-Settings [9], jedoch noch nicht ein Instrument direkter europäischer Bürgerbeteiligung, wie es vielfach betrachtet und auch gewünscht wird [10]. Seit ihrer Einführung hat dieses Instrument jedoch vielfache Reformen und Professionalisierung erfahren, um insbesondere die strukturellen Voraussetzungen leichter zu gestalten. So benötigt eine Initiative 1 Million Unterschriften. Eine Mindestanzahl von sieben Bürgerinnen und Bürgern aus sieben EU-Ländern muss zunächst ein Organisationskomitee bilden und die Initiative online registrieren lassen. Die Initiative muss bestimmte Kriterien beachten, u.a. darf sie sich nur auf Bereiche beziehen, die die Europäische Kommission bearbeitet. Sobald die Initiative registriert ist, darf mit der Unterschriftensammlung (online oder auf Papier) begonnen werden, die in den Ländern je nach Einwohnerzahl bestimmte Quoren erfüllen müssen. 12 Monate stehen für die Sammlung zur Verfügung, danach werden die Unterschriften auf ihre Gültigkeit geprüft. Nachdem die Initiative anerkannt wird, besteht die Möglichkeit, durch EU-Kommission und auch durch das EU-Parlament angehört zu werden. Eine Verpflichtung zur Einleitung von Maßnahmen besteht weder von Seiten der Kommission noch von Seiten des Parlaments. Jedoch wird durch die Lancierung eines Themas mit dazu beigetragen, eine öffentliche europäische Öffentlichkeit zu schaffen. Die hohen Anforderungen an die Einreichung einer Initiative werden vielfach kritisiert. Jedoch wurde seit der Einführung auch einiges unternommen, um Hilfestellungen zu leisten. So gibt es Unterstützung in allen Phasen der Einreichung, Unterschriften dürfen auch online gesammelt werden. Das Forum für die Europäische Bürgerinitiative, das inzwischen mit Unterstützung der Zivilgesellschaft eingerichtet wurde, gibt umfangreiche Unterstützung und organisiert regelmäßig Weiterbildungen. Das Forum erteilt auch Auskunft über den aktuellen Status. In rund 10 Jahren seit dem Bestehen der EBI wurden insgesamt neun Initiativen beantwortet. 57 Initiativen haben ihr Ziel aus unterschiedlichen Gründen nicht erreicht, 21 wurden zurückgezogen. 103 Initiativen sind derzeit registriert [11]. Die Initiative erfordert aufgrund der Komplexität ihrer Umsetzung bereits transnationale Aktivitäten, Sprachkenntnis, Eloquenz und Formulierungskompetenz sowie eine Grundkenntnis des Instruments sowie Prozess- und Themenwissen. Die Verbreitung des Instruments bleibt eine Daueraufgabe, gleichzeitig muss ihre Anwendung weiter vereinfacht werden. Das Europäische Parlament ist in den vergangenen Jahren zu einem wichtigen Partner der europäischen Bürgerinitiative geworden.
Ausblick
Die Entwicklung der Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an europäischer Politik bleibt also eine wichtige Aufgabe. Ein aktuelles Ausrufezeichen setzten die Abgeordneten Alin Mituța (Renew) und Niklas Nienass (Grüne) mit ihrem Bericht »Parliamentarism, European citizenship and democracy«, der am 14. September 2023 mit 316 Stimmen angenommen wurde, entgegen 137 Gegenstimmen und 47 Enthaltungen [12]. Der Bericht fordert die Stärkung strukturierter Partizipationsmöglichkeiten auf EU-Ebene, unter anderem die regelmäßige Durchführung von Bürger:innenräten (mini publics) sowie weiterer deliberativer Instrumente wie die Einrichtung Europäischer Bürgerpanels, wie sie bereits im Rahmen der Konferenz zur Zukunft Europas eingesetzt wurden. Die Instrumente sollen eine Ergänzung zu repräsentativen Prozessen sein und zur weiteren Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit beitragen. Zudem sollen die Ergebnisse in Bezug auf die Agenda der Europäischen Kommission beratende Funktion haben – wie bisher die Ergebnisse deliberativer Foren und der Europäischen Bürgerinitiative. Jüngste Umfragen zeigen sehr unterschiedliche Ausmaße von Vertrauen in die Europäische Union: Sowohl Bewahrung, Abbau oder Beibehaltung der momentanen Integration in der EU zeigen sich [13]. In einer Zeit multipler, aufeinanderfolgender und sich zum Teil überlappender Krisen ist es umso wichtiger, die Entwicklungen der Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an Prozessen der EU-Politik weiterzuführen und nicht abzubrechen. Auch wenn die bisherigen Maßnahmen kein Quantensprung sind: Sie forcieren die Meinungsbildung und die Gestaltung einer europäischen Öffentlichkeit, sie zwingen zur gegenseitigen Wahrnehmung der Lebens- und Arbeitsrealität der beteiligten Akteure, seien sie Teil der Bürgerschaft, Teil der Zivilgesellschaft oder Teil der Organe der EU.
Endnoten
[1] Vgl., (Abruf 18. September 2023).
[2] Vgl., (Abruf 18. September 2023).
[3] Vgl., (Abruf 18. September 2023).
[4] Vgl., (Abruf 18. September 2023).
[5] Vgl., (Abruf am 16. September 2023).
[6] Vgl., (Abruf am 16. September 2023).
[7] Kohler-Koch, Beate/Quittkat, Christine (Hrsg.) (2011): Die Entzauberung partizipativer Demokratie. Zur Rolle der Zivilgesellschaft bei der Demokratisierung der EU-Governance. Campus: Frankfurt a.M.
[8] Vgl. Beschluss des Koordinierungssausschuss (KOA) des BBE zur Konferenz zur Zukunft Europas. Mai 2022.
[9] Behringer, Jeannette (2016): The European Citizens` Initiative: Just sweets for the people? The European Citizens Initiative as a participatory tool towards pluralistic democracy within the European Union. In: Knaut, Annette/Conrad, Maximilian (Eds.): Bridging the gap? Opportunities and Constraints of the European Citizens´ Initiative. Baden-Baden: Nomos-Verlag. P. 81-94.
[10] Vgl. hier z.B. die Aktivitäten der europäischen Zivilgesellschaft wie »Democracy International«, (Abruf am 17. September 2023).
[11] Vgl., (Abruf am 19. September 2023).
[12] Vgl., (Abruf am 17. September 2023).
[13] Vgl., (Abruf am 19. September 2023).
Beitrag in den Europa-Nachrichten Nr. 9 vom 21.9.2023
Für den Inhalt sind die Autor*innen des jeweiligen Beitrags verantwortlich.
Autorin
Dr. rer. pol. Jeanette Behringer ist Politikwissenschafterin und Ethikerin. Sie ist Mitglied der Fachgruppe Europa des BBE und BBE-Themenpatin für Demokratie und sozialen Zusammenhalt. Sie ist Dozentin für Nachhaltige Entwicklung in Forschung und Lehre an der Universität Zürich und leitet das Forum Demokratie & Ethik. Ihre Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte sind: Bürgerbeteiligung und Demokratie, Nachhaltige Entwicklung und Demokratie, Verfahren politischer und sozialer Partizipation, Vertrauen und Politik.
Kontakt: behringer@demokratie-ethik.org
Weitere Informationen: https://demokratie-ethik.org/
Redaktion
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