Inhalt
Einleitung
Flüchtlingspolitik mit Kommunen gemeinsam gestalten
Zivile Akteure beteiligen
Autorin
Redaktion
Einleitung
Die schlechte Nachricht zuerst: Eine wirklich gemeinsame Flüchtlingspolitik der Europäischen Union gibt es aktuell in der Praxis nicht. Was wir sehen, ist ein Flickenteppich aus nationalen Maßnahmen, Regeln und Prozessen, die zwischen den Mitgliedstaaten nicht harmonisiert sind und bei denen europäisches Recht teilweise in den Hintergrund rückt. Illegale Pushbacks an den Außengrenzen oder ein veraltetes und dysfunktionales Dublin-System sind dafür nur einige Beispiele. Doch um das Thema Migration und Asyl erfolgreich gemeinsam als Europäische Union zu meistern und schutzsuchenden Menschen ein faires Asylverfahren und neue Chancen in Europa ermöglichen zu können, müssen die Regeln dringend klar und einheitlich gestaltet werden. Spätestens seit den erhöhten Ankunftszahlen von Schutzsuchenden in den Jahren 2015-16 arbeiten wir deshalb an einer Reform des sogenannten Gemeinsamen Europäischen Asylsystems. Jetzt, fast zehn Jahre später, verhandeln das Europäische Parlament und der Rat der Mitgliedstaaten vier der fünf Gesetzesvorschläge, die das neue Gemeinsame Europäische Asylsystem bilden sollen. Auch wenn einige der Positionen des Rates nicht dem entsprechen, was wir uns als Europaparlament unter einer solidarischen und menschenrechtsbasierten Asylpolitik vorstellen, gibt es dennoch die Möglichkeit, durch die Reform einen Neustart in der Asylpolitik zu erreichen und neues Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten zu schaffen. So würde zum Beispiel die Umsetzung eines neuen Screening-Verfahrens an den Außengrenzen sicherstellen, dass wir stets wissen, wer einreist. Und mit einem unabhängigen Überwachungsmechanismus könnten wir die Einhaltung der Grundrechte überprüfen.
Flüchtlingspolitik mit Kommunen gemeinsam gestalten
Worauf immer sich Parlament und Rat am Ende einigen, klar ist: für eine gelungene Reform und einen humanen Umgang mit Geflüchteten sind unsere Bürger*innen, unsere Kommunen und regionale Akteure unerlässlich. Dass aus vielen Kommunen und aus der Zivilgesellschaft in den letzten Jahren so viel Hilfs- und Aufnahmebereitschaft gekommen ist, zeigt, dass sie ihren Teil der Verantwortung für die Aufnahme und den Schutz geflüchteter Menschen übernehmen wollen. Das hat mich in meiner Position bestärkt. Doch angesichts der Menge derzeitiger Herausforderungen wie Klimawandel, Digitalisierung, Transformation unserer Industrie und Stärkung des sozialen Zusammenhalts ist es wichtig, dass Kommunen und engagierte Bürger*innen mit der Unterstützung und Integration Geflüchteter nicht allein gelassen werden. Hier braucht es mehr finanzielle und organisatorische Unterstützung, seitens der nationalen Ebene aber auch durch die Bundesländer selbst. Auf EU-Ebene brauchen wir einen Ausbau des Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds, bei dem die Mittel auch direkt an Kommunen ausgezahlt werden können.
Zivile Akteure beteiligen
Der Kontakt und regelmäßige Austausch von Verwaltung und Politik mit Bürger*innen und Organisationen vor Ort ist wichtig für die Akzeptanz bei Aufnahme und Integration geflüchteter Menschen in Arbeit und Gesellschaft. Erfahrungen zeigen, dass auch Kommunen, die sich ganz bewusst als »sicherer Hafen« für geflüchtete Menschen bekennen, bei den vielen praktischen Herausforderungen immer auch auf Organisationen und Ehrenamt angewiesen sind. Diese »Abhängigkeit« ist zugleich ein wichtiger Faktor bei der Integration, denn die Menschen tragen ihre Erfahrungen auch an ihr eigenes Umfeld weiter und verbreiten so ganz individuelle Einblicke jenseits von reinen Zahlen und negativen Begriffen. Genau hier liegt auch ein wichtiger Baustein, damit Asylpolitik in der Breite der Bevölkerung Zustimmung finden kann. Während oft etwa zivile Seenotrettung bzw. deren Kriminalisierung durch einige Mitgliedstaaten im Fokus der Medien steht, geht es vor Ort von Kleiderkammer bis Sprachunterricht um viele praktische Hilfen für geflüchtete Menschen. Um dieses Engagement langfristig zu sichern und immer wieder auch neue Bürger*innen einzubinden, braucht Ehrenamt dauerhaft auch hauptamtliche Unterstützung und Austausch sowohl mit zivilgesellschaftlichen Organisationen als auch mit Politik und Verwaltung. Dieser dauerhafte Austausch zu Wissen und Erfahrungen vor Ort, auch in Bezug auf die zahllosen praktischen Herausforderungen und behördlichen Notwendigkeiten, bietet nicht nur wichtige Einblicke, wie der Umgang mit Geflüchteten funktioniert und wo es Konflikte geben kann. Er zeigt auch auf, wo Gesetze und Regeln unklar oder verbesserungswürdig sind und erleichtert so das frühzeitige Erkennen von veränderten Rahmenbedingungen und neuen Herausforderungen. Damit kann ein Austausch Grundlage dafür sein, dass sich Kommunen und andere Akteure frühzeitig auf veränderte Situationen einstellen können. Auf europäischer Ebene gibt es unterschiedlichste Beteiligungen. Grundsätzlich bietet etwa die europäische Kommission immer wieder im Vorfeld von Gesetzesvorschlägen öffentliche Beteiligungen auf ihren online-Portalen an. Regierungen und nationale Parlamente können Anhörungen mit unterschiedlichsten Akteuren organisieren - dies macht auch das europäische Parlament. Und natürlich bringen auch Bundes- und Ländervertretungen, aber auch etwa der Sozialausschuss oder der Ausschuss der Regionen, ihre Positionen in die Debatten ein. Künftig könnten solche Kontakte systematischer eingesetzt und die Erfahrungen verschiedener Akteure gezielter nutzbar gemacht werden.
Der Weg nach vorne
Bei allen bereits vorhandenen Formen der Kooperation – nichts ist perfekt und immer wieder gibt es trotz allen guten Willens auch Hindernisse. Häufig wird der mitunter mühselige und komplizierte Umgang mit Ämtern und Behörden beklagt, oder der mitunter eher oberflächliche Austausch ohne echte Debatte. Im bereits angesprochenen schlimmsten Fall behindern Regierungen sogar die Arbeit von zivilgesellschaftlichen Organisationen, wie am Beispiel Italiens und der zivilen Seenotrettung deutlich wird. In Ermangelung staatlicher bzw. europäischer Seenotrettungsprogramme erfüllen zivile Seenotrettungsorganisationen die humanitäre Aufgabe, Menschen vor dem Ertrinken zu retten. Dabei werden sie immer wieder gezielt behindert und vor Gericht gestellt. Die Zivilgesellschaft muss zunehmend als Partner bei der Bewältigung von Herausforderungen gesehen, anerkannt und unterstützt werden. Unterstützung, kontinuierlicher Austausch und klare Regeln sind dabei auch ein Beitrag, um Hass und Hetze zu bekämpfen und so unsere Demokratie neu zu stärken. Das sind zusätzliche Aufgaben – doch am Ende wird es darauf ankommen, dass wir in der Migrations- und Asylpolitik einen Neuanfang schaffen; dass wir uns solidarisch zeigen mit schutzsuchenden Menschen, mit den aufnehmenden Mitgliedstaaten und mit all unseren Bürger*innen. Dabei gilt es, alle unsere europäischen Werte zu verteidigen und immer wieder neu mit Leben zu füllen. Grundsätzlich gilt: Migration hat viele Aspekte. Manche Menschen nutzen fälschlich das Asylsystem auf der Suche nach Ausbildung oder Arbeit. Deshalb sind auch einheitlichere Regeln für die legale Zuwanderung sowie neue Formen der Kooperation mit Drittstaaten zur Bekämpfung von Armut und Ausbeutung weitere wichtige Aufgaben für künftige Politik in Deutschland und Europa.
Beitrag in den Europa-Nachrichten Nr. 9 vom 21.9.2023
Für den Inhalt sind die Autor\*innen des jeweiligen Beitrags verantwortlich.
Autorin
Birgit Sippel ist seit 2009 SPD-Europa-Abgeordnete im Europäischen Parlament und Mitglied der sozialdemokratischen S&D-Fraktion. Seit 2014 ist sie die innenpolitische Sprecherin der S&D im Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres. Im Rahmen der Asylreform ist Birgit Sippel als Berichterstatterin für die Verordnung zum Screening von Drittstaatangehörigen an den Außengrenzen verantwortlich.
Kontakt: birgit.sippel@europarl.europa.eu
Weitere Informationen: https://birgitsippel.de
Redaktion
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