Beitrag in den Europa-Nachrichten Nr. 9 vom 21.9.2023

Bjela Vossen und Elena Hofmann, DNR

Der Green Deal in Europa – Wo stehen wir und wie steht es um die Bürgerbeteiligung?

Inhalt

Einleitung
Der Green Deal in Europa – wo stehen wir?
Europäischer Green Deal: Resilienz versus Belastungsmoratorium
Gerechtigkeit im europäischen Green Deal
Bürger*innenbeteiligung in der EU - kann, aber muss nicht?
Rechtliche Einschränkung der öffentlichen Beteiligung – Aarhus und SLAPP
Bürgerschaftliches Engagement im Kontext der Demokratieentwicklung
Endnoten
Autorinnen
Redaktion

Einleitung

Mit dem europäischen Green Deal hat die EU den Startschuss für eine sozial-ökologischen Transformation Europas gegeben. Doch der Umbau der Wirtschaft und Politik hin zu Klimaneutralität und Umweltschutz ist kein 100-Meter-Sprint, sondern eher ein Langlauf. Die letzten Jahre haben gezeigt: die EU hat einen guten Start hingelegt. Doch jetzt braucht es Durchhaltevermögen und Konsistenz. Es bedarf einer konsequenten und ambitionierten Umsetzung und einer Weiterentwicklung in den nächsten fünf Jahren, damit die Europäische Union nachhaltig und resilient wird. Dafür sind die EU-Wahlen im Juni 2024 und das kommende Arbeitsprogramm der dann neuen EU-Kommission entscheidend. Erste Leitlinien für die Arbeit in der nächsten Legislaturperiode werden von den Europäischen Staats- und Regierungschef*innen beim informellen Europäischen Rat Anfang Oktober in Granada gesetzt. Zentral wird hier sein, die sozial-ökologische Transformation mit starken Initiativen voranzubringen, indem beispielsweise die Landwirtschaft sozialer und klimafit gemacht wird oder der Verkehrssektor elektrifiziert und auf die Schiene gesetzt wird. Wichtig ist, dass sämtliche Finanzmittel klar an den Erfordernissen der Realisierung des europäischen Green Deals anzupassen sind und mehr Konsistenz zwischen öffentlicher Umwelt- und Finanzpolitik besteht.

Der Green Deal in Europa – wo stehen wir?

Seit Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im Dezember 2019 den europäischen Green Deal vorgestellt hat, sind zahlreiche Dossiers zwischen EU-Kommission, dem EU-Parlament und dem Minister*innenrat verhandelt worden. Die letzten Dossiers des »Fit for 55-Klimapakets« werden voraussichtlich Ende 2023 im Trilog abgeschlossen sein. Im Biodiversitätsbereich gehören insbesondere das EU-Renaturierungsgesetz, die Gesetzgebung zur Bodengesundheit und die Pestizid-Verordnung zu den Gesetzesinitiativen des Europäischen Green Deals, bei denen ein Abschluss des Gesetzgebungsprozesses vor April 2024 erfolgen könnte. Auch beim Kreislaufwirtschaftspaket II mit seinen Initiativen zu Verpackungen, zum Recht auf Reparatur und zum Greenwashing sowie zu den Luftreinhaltungsgesetzen (u.a. Euro 7) könnte noch eine Einigung zwischen Kommission, Rat und Parlament erzielt werden.

Alle Initiativen, die die EU-Kommission noch vor der Sommerpause vorgestellt hat, haben zumindest die Chance, noch vor den EU-Wahlen nächstes Jahr zu Ende verhandelt zu werden. Die Nachfolgerkommission kann Vorschläge zurückziehen, wenn sie meint, dass keine Einigung zwischen Rat und Parlament möglich sind. Insofern versuchen Rat und Parlament möglichst viele Gesetzgebungsvorschläge des europäischen Green Deals abzuschließen. Dazu gehörten unter anderem einige Gesetze im Industriebereich, wie der Net Zero Industry Act, der Critical Raw Materials Act und das Industrieemissionspaket, aber auch die Ökodesign- und Verpackungsverordnung.

Wichtig ist auch eine Einigung bei der Reform der europäischen Stabilitätsregeln (Fiskalrahmen), die die notwendigen Investitionen in den sozial-ökologische Transformation ermöglicht. Denn starre europäische Schuldenregeln verhindern, dass gerade hoch verschuldete Mitgliedstaaten die Möglichkeit haben, ihre Wirtschaft zukunftsfähig zu machen und den Wandel hin zu einer echten Kreislaufwirtschaft anzukurbeln. Investitionen und in den Klimaschutz dürfen nicht durch starre Regeln ausgebremst werden.

Europäischer Green Deal: Resilienz versus Belastungsmoratorium

Die EU-Kommission und das Europäische Parlament sind schon in Wahlkampfstimmung und die Stimmen für ein Belastungsmoratorium für Dossiers des europäischen Green Deals werden lauter. Der Europaabgeordnete Manfred Weber hat dies bei der Abstimmung im EU-Parlament zum Renaturierungsgesetz im Juli auf die Spitze getrieben, indem er die christlich-demokratische Parteienfamilie EVP aufgefordert hat, gegen das Gesetz zu stimmen. Bisher hält die EU-Kommission jedoch an dem Umbau Europas durch die Wirtschaftsstrategie des europäischen Green Deal fest. Und sowohl die Corona-Pandemie als auch der russische Angriffskrieg auf die Ukraine haben sie nicht von dem eingeschlagenen Weg abbringen können. Denn gerade in Krisenzeiten wird klar, dass eine sozial-ökologische Transformation die Resilienz und Unabhängigkeit Europas stärkt.

Allerdings scheint der Wille bei bestimmten Dossiers des Green Deals auch in der EU-Kommission zu schwinden: So hat die EU-Kommission anders als ursprünglich angekündigt, die im europäischen Green Deal vorgesehenen Revision der EU-Chemikalienverordnung REACH nach hinten verschoben bzw. nicht weiterverfolgt. Damit ist ihre Vision einer giftfreien Umwelt in weite Ferne gerückt. Und auch das angekündigte Gesetz für nachhaltige Ernährungssysteme sowie der Revisionsvorschlag zur Überarbeitung der europäischen Tierschutzgesetzgebung wird die Kommission bestenfalls Ende des Jahres verabschieden. Sollte die Kommission noch einen Vorschlag vorlegen, ist vor der Europawahl nicht mehr genug Zeit für Rat und Europaparlament, um eine Einigung zu erzielen. Die Rede von der Leyens zur Zukunft der Europäischen Union hat deutlich gemacht, dass sie es derzeit versucht, allen Parteien recht zu machen, aber zumindest verbal am europäischen Deal festhält.

Gerechtigkeit im europäischen Green Deal

Um den Langlauf der sozial-ökologischen Transformation durchzuhalten, sollten wir uns keine Steine selbst in den Weg legen. Dazu gehört, dass wir Gerechtigkeit als Basis der sozial-ökologischen Transformation immer mitdenken. Dass dies auch die Akzeptanz für die Transformation in der Bevölkerung erhöht, ist ein netter Nebeneffekt. Sozioökonomischen Ungleichheiten innerhalb Europas sind auch eine Bedrohung für die Stabilität in der EU. Untersuchungen zeigen eine Korrelation zwischen Sparmaßnahmen und dem Anstieg von Anti-EU Strömungen und Populismus.

Gerechtigkeit umfasst auch globale Gerechtigkeit. Dafür muss die EU jetzt ihrer historischen Verantwortung insbesondere für die Klimakrise gerecht wird, indem sie nun ambitioniert und unterstützend den 1,5°-Pfad angeht: dafür muss die EU ihre Treibhausgasemissionen rasch, fair und deutlicher als bisher mindern und die Energiewende beschleunigen.

Soziale Gerechtigkeit und Geschlechtergerechtigkeit sind wesentliche Bestandteile einer nachhaltigen und resilienten Demokratie und der Schlüssel für eine erfolgreiche sozial-ökologische Transformation. Durch die Gleichstellung der Geschlechter und Berücksichtigung marginalisierter Gruppen können soziale Ungleichheit und Umweltverschmutzung reduziert und gesellschaftliche Teilhabe erhöht werden. Daher müssen alle Maßnahmen zur Reduzierung der Klima-, Biodiversitäts- und Verschmutzungskrisen auf die geschlechtsspezifische Situation besonders von Frauen und allen Menschen, die aufgrund ihres Geschlechts diskriminiert werden, geprüft und mit ausreichenden finanziellen Mitteln verankert werden. Soziale und ökologische Fragen müssen zusammengedacht werden und ökologisch wirksame Preissignale sozial-gerecht abgefedert werden. Beim Klimaschutz heißt das beispielsweise, dass Finanzinstrumente wie der Klimasozialfonds gestärkt werden müssen. All das fordern 95 DNR-Mitgliedsorganisationen in ihren Europawahlforderungen [1].

Bürger*innenbeteiligung in der EU - kann, aber muss nicht?

Die sozial-ökologische Transformation kann nur gelingen, wenn alle Menschen in der EU dazu befähigt sind, diese mitzugestalten. Für die Beteiligung der Bürger*innen gibt es eine Vielzahl an möglichen Instrumenten, die in der EU jedoch noch zu schwach verankert sind. Die EU-Institutionen nutzen hier vor allem öffentliche Konsultationen, Bürger*inneninitiativen und zivilgesellschaftliche Dialoge, wobei die Ergebnisse recht schwache Konsequenzen haben.

Mittlerweile hat die EU-Kommission die Möglichkeit der öffentlichen Konsultation zwar ausgeweitet: Sie gibt nicht nur vor der Veröffentlichung einer Gesetzesinitiative den Bürger*innen und der organisierten Zivilgesellschaft die Möglichkeit der Meinungsäußerung, sondern auch danach. Doch sie kann, aber sie muss die Ergebnisse nicht berücksichtigen.
Ebenso verhält es sich mit der Europäischen Bürger*inneninitiative, bei der die Initiatoren und mindestens eine Million unterstützende Bürger*innen die EU-Kommission auffordern können, einen Rechtsakt zu einem Thema vorzulegen. Auch daran muss sich die EU-Kommission nicht halten, immerhin muss sie mittlerweile aber bei einer erfolgreichen Bürger*inneninitiative einer Anhörung im zuständigen Ausschuss des Europäischen Parlaments beiwohnen. Auch wenn es Gesetzgebungen vorsehen, die betroffene organisierte Zivilgesellschaft anzuhören, werden die Verbände häufig auch auf nationaler Ebene von Ministerien nur im Sinne eines »Pflichttermins« einbezogen.

Die Beteiligung von Bürger*innen an den EU-weiten Bürgerdialogen zur Zukunft Europas hat die EU-Kommission nach Anlaufschwierigkeiten zudem ernst genommen und ist tätig geworden [2]. Eine Folgewirkung der Konferenz zur Zukunft Europas ist der Versuch, den Meinungsaustausch in der Politikgestaltung der EU zu etablieren und dadurch die Demokratie zu verankern. Drei Bürgerforen der neuen Generation haben bereits stattgefunden und im Vorfeld von Kommissionsinitiativen zu Lebensmittelverschwendung, virtuellen Welten und Lernmobilität im Ausland Empfehlungen ausgesprochen.

Klar wird, es gibt zwar schon einige hilfreiche Instrumente, doch die Ergebnisse der Beteiligung haben bisher viel zu wenig Einfluss auf die Politik. Dies muss sich dringend ändern.

Ein interessanter Ansatz ist demgegenüber die Absicht der EU-Kommission, eine grenzüberschreitende Vereinsarbeit [3] künftig zu vereinfachen. Erst im September hat sie einen Vorschlag zur Erleichterung der grenzübergreifenden Aktivitäten von Vereinen ohne Erwerbszweck in der EU [4] angenommen. Dadurch will sie Vereine ohne Erwerbszweck in der EU stärken und rechtliche und administrative Hindernisse für gemeinnützige Organisationen, die in mehr als einem Mitgliedstaat tätig sind oder tätig werden wollen, beseitigen.

Rechtliche Einschränkung der öffentlichen Beteiligung – Aarhus und SLAPP

Im Umweltbereich sollen die drei Säulen der Aarhus-Konvention jeder Person die öffentliche Beteiligung ermöglichen: 1) den Zugang zu Informationen, 2) die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und 3) den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten.

Allerdings haben sowohl die EU als auch Deutschland die dritte Säule dieses völkerrechtlichen Vertrags, den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten, nicht ordnungsgemäß umgesetzt. In Deutschland soll dies mit dem Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz gewährleistet und der Rechtsschutz in Umweltangelegenheiten und das Klagerecht in Umweltangelegenheiten geregelt werden. Das seit 2006 geltende Gesetz reicht aber nicht. Deshalb hat ein Verbändebündnis im Juni 2023 einen Entwurf für ein neues Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz [5] erarbeitet. Dieser Gesetzesentwurf der Verbände zeigt konkret auf, wie Rechtskonformität und Rechtssicherheit durch eine Revision gewährleistet werden könnte.

Auch die zweite Säule der Aarhus-Konvention, die Öffentlichkeitsbeteiligung [6], gerät in Deutschland zunehmend durch die Beschleunigungsdebatte im Infrastrukturbereich bei Planungs- und Genehmigungsverfahren unter Druck. Da Beteiligung nicht nur Umweltschutz, sondern auch die Akzeptanz für Projekte verbessert, haben zwei Umweltverbände auch für eine Revision des Öffentlichkeitsbeteiligungsgesetz (ÖBG) eine Blaupause vorgelegt. Damit sollen die Standards der Öffentlichkeitsbeteiligung auch im digitalen Raum sicherstellen.

Eine sich weiter ausbreitende Methode, um die öffentliche Beteiligung zu unterdrücken, ist die strategische Klage gegen öffentliche Beteiligung (SLAPP - strategic lawsuit against public participation) [7] von Unternehmen oder auch Behörden. Ziel dieser rechtsmissbräuchlichen Form der Klage ist, Kritiker*innen einzuschüchtern und ihre öffentlich vorgebrachte Kritik zu unterbinden. Eine solche strategische Klage gegen öffentliche Beteiligung hat die Intention, die finanziellen und psychologischen Ressourcen der Angeklagten zu erschöpfen und diese einzuschüchtern. Die EU-Kommission hat angekündigt [8], gegen diese missbräuchlichen Klagen gegen Journalisten*innen und Menschenrechtsverteidiger*innen vorzugehen. Dies wäre ein wichtiger Schritt, um eine freie und öffentliche Beteiligung weiterhin zu ermöglichen.

Bürgerschaftliches Engagement im Kontext der Demokratieentwicklung

Der EU-Kommission scheint die Notwendigkeit von mehr Beteiligung und einer stärkeren und wehrhaften Demokratie klar zu sein. So hat sie angekündigt [9], noch 2023 ein Demokratiepaket vorzuschlagen. Ein Bündnis aus Zivilgesellschafts- und Demokratieorganisationen hat Prioritäten [10], erarbeitet, um die Demokratie zu verteidigen. Die Vorschläge umfassen unter anderem die Bereiche Zivilgesellschaft, zivilgesellschaftlicher Raum, aktive Bürgerschaft und Online-Öffentlichkeit. Wichtige Impulse aus Sicht des DNR wären hier starke Initiativen gegen Desinformation, demokratische, transparente und für die Menschen greifbare Entscheidungsprozesse in der EU, mit stärker regulierten Lobbyismus-Regeln sowie mehr Programme für die Förderung von Bildung für nachhaltige Entwicklung, Menschenrechts- und Demokratiebildung.

Der Zuwachs an rechtspopulistischen und europafeindlichen Kräften erschwert es die Demokratie weiterzuentwickeln. Denn gerade in Polen und Ungarn, aber auch in Deutschland mit der AfD gilt es, an der Demokratie festzuhalten und sie zu stärken. Bei der Europawahl am 09. Juni 2024 wird sich zeigen, wie stabil Europas demokratische Perspektiven sind. Deswegen ist es dringend geboten, die demokratischen Kräfte in Deutschland zur Europawahl zu stärken und eine konsequente Weiterführung und Umsetzung des europäischen Green Deals zu erreichen. Uns darf jetzt nicht die Puste ausgehen im Langlauf hin zu einer nachhaltigeren, gerechteren, klimaneutralen und menschlicheren EU.

Endnoten

[1] Vgl. Deutscher Naturschutzring, Pressemitteilung.

[2] Vgl. »Konferenz zur Zukunft Europas«.

[3] Vgl. Europäische Kommission, Pressmitteilung.

[4] Vgl. EUR-Lex.

[5] Vgl. DNR, »Verbändeeigener Entwurf für neues Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz«.

[6] DNR, »25 Jahre Aarhus: Bessere Öffentlichkeitbeteiligung gefordert«.

[7] Vgl. Umweltinstitut München e.V., «SLAPPs – Ein Angriff auf Demokratie und Meinungsfreiheit».

[8] Vgl. Europäische Kommission, »EU-Kommission geht gegen missbräuchliche Klagen (SLAPP-Klagen) gegen Journalisten und Menschenrechtsverteidiger vor«.

[9] Vgl. European Parliament.

[10] Vgl. European Partnership for Democracy.


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Für den Inhalt sind die Autor\*innen des jeweiligen Beitrags verantwortlich.

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Autorinnen

Dipl. Biologin Bjela Vossen ist die Leiterin der DNR EU-Koordination und Vizepräsidentin des Europäischen Umweltbüros.

Elena Hofmann ist Politikwissenschaftlerin und Referentin für EU-Klimapolitik beim DNR.

Kontakt: bjela.vossen@dnr.de, Tel.: +49 (0)30 / 6781775-85

Weitere Informationen: www.dnr.de/eu-koordination www.umweltcheck-ep.de


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