Beitrag in den Europa-Nachrichten Nr. 9 vom 6.10.2022

Europäische Zivilgesellschaft: Quo vadis?

Sergey Lagodinsky

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Autor
Redaktion

Rede gehalten am 9. September 2022 in Berlin bei der Eröffnung der Woche des bürgerschaftlichen Engagements


Wenn wir über Europa reden, reden wir allzu oft über Märkte, über Wirtschaft, über Finanzen. Wir reden dagegen selten über Demokratie. Und wenn wir über die Demokratie Europas reden, dann reden wir immer noch sehr oft über europäische demokratische Institutionen: das Europäische Parlament, seine Parteien und seine Transparenz sind wichtiger Teil unserer Demokratie. Deswegen hoffe ich auch auf ein reformiertes Wahlrecht mit transnationalen Listen, das dieser Institution eine moderne Gestalt gibt. Auch in Deutschland sollte es möglich sein, für Kandidatinnen und Kandidaten aus Bulgarien abzustimmen und umgekehrt. Was für ein Fortschritt für unsere Gemeinschaft!

Sehr selten reden wir allerdings über diejenigen, die uns tatsächlich europäische Freiheit beschert und gesichert haben – in den Wende-Jahren, auf den Barrikaden und auf den Demonstrationen überall in Europa, wenn es um unsere gemeinsamen Werte ging. Menschen, die sich auch jetzt engagieren, die sich um Menschen auf der Flucht im Mittelmeer kümmern. Engagierte, die sich um die Menschen aus der Ukraine hier bei uns in Deutschland kümmern, damit sie ein Dach über dem Kopf haben oder sie auf die Ämter begleiten. 

Wir reden zu wenig über diese Menschen, über die Zivilgesellschaft Europas. Diese Zivilgesellschaft wurde sehr lange vernachlässigt. Sie wurde als Selbstverständlichkeit hingenommen. Es war selbstverständlich, dass es Menschen gibt, die für andere etwas Gutes tun, und es war überhaupt nicht als Aufgabe Europas zu verstehen. 

Wir kennen das im Europäischen Parlament. Seit 40 Jahren arbeiten wir daran, für diese Zivilgesellschaft eine eigene europäische Rechtsform zu schaffen, eigene europäische Regelungen zu schaffen. In den Achtzigern hat das Parlament in Brüssel und in Straßburg zum ersten Mal dieses Projekt angemahnt und das Ziel klar formuliert: »Wir wollen, dass es in Europa einen europäischen Verein gibt«. Seit 40 Jahren ist nichts passiert. Die Kommission hat das Thema zwar aufgegriffen und in den 90er Jahren sogar einen eigenen Vorschlag vorgelegt. Aus diesem Vorschlag ist allerdings nichts geworden, weil die Mitgliedstaaten dagegen waren – an vorderster Front der Gegner stand damals Deutschland. Der jüngste Versuch, etwas ähnliches zu gestalten, war der Versuch, gemeinnützige Stiftungen europäisch zu verankern. Auch das war ein Vorschlag der Kommission und auch dieser Vorschlag ist Anfang der 2000der Jahre am Widerstand der deutschen Bundesländer und der deutschen Bundesregierung gescheitert. 

Wir haben die europäische Zivilgesellschaft so lange nicht im Blick gehabt, bis sie von den Autokraten, von den Feinden der Demokratie, von den Putins, außerhalb Europas und von den Orbans innerhalb Europas wiederentdeckt wurde. Die Feinde der Demokratie waren es, die das Potential einer starken Zivilgesellschaft als Gefahr für ihr autokratisches Handeln gesehen und damit zu einer ernsthaften Diskussion beigetragen haben. Plötzlich war es interessant, über die Zivilgesellschaft zu reden. Plötzlich war es interessant, die Zivilgesellschaft anzugreifen. Auf Zypern wurde versucht, missliebige NGO´s zu verbieten. In Bulgarien hat ein Minister dazu aufgerufen, NGO´S, die für Transparenz eintreten, zu verbieten. In Ungarn wissen wir alle, wurde sich sehr lange Zeit darum bemüht, die NGO´s die Menschen auf der Flucht helfen, mit Unterdrückung zu belegen. Und auch hier bei uns in Deutschland, einer intakten Demokratie mit Strahlkraft ist die ungeklärte Situation um den Status der Gemeinnützigkeit etwas, das noch immer ein Problem darstellt und zivilgesellschaftlichem Engagement das Leben schwer macht. Wir alle kennen die Beispiele von Organisationen, denen versucht wurde, die Gemeinnützigkeit abzuerkennen. 

Es ist an der Zeit, dass wir die europäische Zivilgesellschaft wieder entdecken - das habe ich mir gesagt, als ich für das Europäische Parlament kandidiert habe. Und ich habe sofort gemerkt, dass ich mit diesem Ziel nicht allein bin. Es gibt eine ganze Tradition, eine ganze Bewegung von Menschen, die schon lange darum kämpfen, der Zivilgesellschaft die Aufmerksamkeit zu schenken, die sie verdient. Und seitdem ich auch im Europäischen Parlament mit anpacken darf, haben, wir es geschafft, einen Bericht mit zwei Gesetzesvorschlägen, einzubringen und mit breiter Mehrheit im Europäischen Parlament zu beschließen.

Dabei haben wir zwei wichtige Ziele:

  1. Wir wollen die Arbeit von NGO´S im europäischen Raum schützen. Unser Kampf um Demokratie ist ein Kampf, den wir nur gemeinsam mit der Zivilgesellschaft führen können. Die Orbans und Kaczyńskis dieser EU dürfen nicht gegen die Zivilgesellschaft gewinnen. Mit unseren Vorschlägen, die jetzt auch von der Europäischen Kommission aufgegriffen werden, schaffen wir sichere europäische Räume für die Zivilgesellschaft. Es muss möglich sein, dass ein Verein, der sich europäisch versteht, aus einem Land in ein anderes europäisches Land umziehen und seine Arbeit fortsetzen kann. Es muss doch möglich sein, dass solche Vereine nicht diskriminiert werden, nur weil sie eine bestimmte, vielleicht für die Regierung missliebige, politische Zielrichtung haben. Es muss doch möglich sein, dass Mitglieder solcher Vereine nicht diskriminiert und nicht mit Sanktionen belegt werden, nur weil sie Mitglieder in einer Nichtregierungsorganisation sind. Das sind Beispiele, die es leider in der Realität der EU gibt und die wir korrigieren müssen. Es muss klar sein, dass Vereine gemeinnützig sein können und trotzdem für Ökologie und auch für politische Zwecke eintreten können, solange diese Zwecke nicht parteipolitisch sind.

  2. Wir wollen eine Rechtsform für Vereine in Europa. Wir wollen, dass es nicht nur europäische Aktiengesellschaften gibt, die sich europäisch und grenzüberschreitend vernetzen und verstehen. Wir wollen, dass es Menschen sind. Wir sind an der Grenze zwischen Deutschland und Polen entlang gereist und haben mit sehr vielen engagierten Menschen aus ganz Europa gesprochen. Diese Menschen wollen die Möglichkeit bekommen, sich zusammenzuschließen, ohne sich festzulegen, ob das ein Verein ist, der nach deutschem, nach polnischem oder nach einem anderen Recht handelt. Das ist das Ziel unserer Bewegung, das ist das Ziel unserer Initiative im Europäischen Parlament. Eine Initiative, die die Kommission auch teilt. Wir wollen, dass diese Vereine sich europäisch fühlen, dass diese Zivilgesellschaft sich europäisch fühlt. Denn nur dann ist eine Demokratie eine vollständige, eine vielleicht auch vollkommene Demokratie, jedenfalls einen Schritt vollkommener als heute. Wir sind eine Zivilgesellschaft, lasst es uns anpacken!


Autor

Sergey Lagodinsky ist seit Juli 2019 Mitglied des Europäischen Parlaments und dort unter anderem stellvertretender Vorsitzender des Rechtsausschusses, Vorsitzender der EU-Türkei Delegation und stellvertretendes Mitglied im Innen- und Außenausschuss.

Kontakt:sergey.lagodinsky@europarl.europa.eu

Weitere Informationen:https://lagodinsky.de/


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