Inhalt
Zur sozialen Verantwortung der Unternehmen in der Sozialen Marktwirtschaft
Der beklagenswerte Rückgang der Tarifbindung
Für mehr sozialpolitische Akzente der EU
Sozialpartnerschaft wieder stärken
Klimawandel: Streit ja, soziale Spaltung nein
Global erhebliche Defizite bei Arbeitnehmerrechten
Lokale Beispiele für CSR im Ruhrgebiet
Unternehmen müssen Spielräume nutzen
Autor
Redaktion
Zur sozialen Verantwortung der Unternehmen in der Sozialen Marktwirtschaft
Als Sozialpolitiker ist es eines meiner Hauptanliegen, die Basiselemente unserer bewährten Sozialen Marktwirtschaft zu erhalten und wieder zu stärken. Das Recht, sich in Gewerkschaften zu organisieren, ist international in den ILO-Kernarbeitsnormen festgeschrieben, an denen sich seit 1998 mittlerweile 146 Staaten beteiligt haben. Das ist ein Erfolg, aber beispielsweise haben Staaten wie China, Indien oder Thailand das Abkommen über das Recht auf Selbstorganisation in Gewerkschaften nicht ratifiziert. Aus meiner Sicht sollten am besten beim Thema CSR und der gesellschaftlichen Verantwortung der Unternehmer zunächst national und europäisch die Hausaufgaben erledigt werden, bevor wir Probleme der globalisierten Weltwirtschaft angehen wie z.B. Mindeststandards in Lieferketten. Hier wird uns das Thema Klimawandel und dessen Berücksichtigung im Welthandel in nächster Zeit intensiv beschäftigen wie die neue EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen kürzlich angekündigt hat.
Der beklagenswerte Rückgang der Tarifbindung
Obwohl wir in Deutschland seit über 10 Jahren eine sehr positive und erfreuliche gesamtwirtschaftliche Entwicklung bei den Beschäftigungszahlen haben, stört mich eine strukturelle Entwicklung: Es droht eine wesentliche Säule der Sozialen Marktwirtschaft immer weiter wegzubrechen. Zu oft wird der eklatante Rückgang der Tarifbindung übersehen. In den letzten 20 Jahren hat sich in Westdeutschland nach der Befragung im IAB-Betriebspanel ein Rückgang von 70% auf knapp unter 50% der Betriebe im Jahr 2017 ergeben. In Ostdeutschland betrug 2017 die Tarifbindung in der Privatwirtschaft sogar nur noch 27%, in der westdeutschen Privatwirtschaft noch 43%. Nur die hohe Tarifbindung in der öffentlichen Verwaltung verbessert den statistischen Wert für die Gesamtwirtschaft auf 49%. Es sind ausgehandelte Tariflöhne, die gerechte Löhne möglich machen. Wir stehen also einem erheblichen Rückgang der gelebten Sozialpartnerschaft gegenüber. Wenn die Unternehmen sich daraus zurückziehen und der Markt keine Tariflöhne mehr regelt, kann es passieren, dass der Staat mehr eingreifen muss: So hat NRW-Arbeitsminister Laumann einen Tarifvertrag im Sicherheitsgewerbe für allgemeinverbindlich erklärt. Einen Rückgang gibt es auch bei der Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband. Zudem nehmen Mitgliedszahlen ohne Teilnahme am Tarifvertrag stark zu. 2018 waren bei den Metallarbeitgebern 1,8 Millionen Beschäftigte nach Tarifvertrag bezahlt, aber auch 560 000 Beschäftigte ohne Tarifvertrag. Es gab 3700 Mitgliedsbetriebe, die keinen Tarifvertrag mehr hatten, gegenüber knapp 3200 Betrieben mit Tarifvertrag bei den Metallarbeitgebern.
Für mehr sozialpolitische Akzente der EU
Der große gemeinsame Binnenmarkt ist die Erfolgsgeschichte der Europäischen Union. Deutschland als Land im Zentrum Europas profitiert davon enorm. Allerdings war das Themenfeld Sozialpolitik bisher meistens kein Schwerpunkt der europäischen Politik. Erst mit der Verkündung der neuen »Säule soziale Rechte« durch die Juncker-Kommission im Herbst 2017 hat ein vorsichtiger Umschwung eingesetzt. 2018 wurde endlich eine Reform der Entsenderichtlinie von 1996 verabschiedet. Hiermit konnte Wettbewerbsgerechtigkeit und Schutz vor Dumpinglöhnen sichergestellt werden. Es gilt somit nun der Grundsatz gleicher Lohn, für gleiche Arbeit am gleichen Ort. Beidem gerecht zu werden war mir wichtig. Es war ein überfälliger Schritt, denn es hat dem Ansehen der EU geschadet, dass die alte Entsenderichtlinie lange Zeit faktisch eine Umgehung etablierter sozialer Spielregeln möglich gemacht hatte. Entsendete Arbeitnehmer werden ab Mitte 2020 den Tariflohn des Landes erhalten, indem sie ihre Arbeit ausüben. Das ist ein großer Erfolg.
In der Entsenderichtlinie blieb jedoch das Speditionswesen und damit die Rechte von LKW-Fahrern ausgenommen. Deutschland ist das Haupttransitland der EU. Ende 2019 konnte nach zähem Ringen endlich das Mobilitätspaket verabschiedet werden, das 3,6 Millionen LKW-Fahrer betrifft. 70% der Fahrer stammen aus Osteuropa. Pro Woche wurden 45 Stunden Ruhezeit festgelegt, die nicht mehr im LKW verbracht werden dürfen. Hier bestand aus meiner Sicht erheblicher Handlungsbedarf.
Der schleichende Rückgang bewährter Elemente in der Sozialen Marktwirtschaft ist für mich mehr als besorgniserregend und bedarf vermehrter Aufmerksamkeit. Gerade da, wo der Markt sich nicht mehr selber regelt und wesentliche Bestandteile der Sozialen Marktwirtschaft wegbrechen, ist Politik gefordert einzugreifen. Wir können heute Unterstützung für das europäische Projekt nicht mehr erreichen, indem man – wie es oft geschieht – hauptsächlich Frieden und Freiheit in den Mittelpunkt stellt. 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges hat die Mehrheit der Bevölkerung noch nie einen Krieg erlebt. Frieden und Freiheit sind dadurch für viele Menschen selbstverständlich geworden. Es ist wichtig, dass die soziale Dimension mit eingeschlossen wird, wenn es darum geht, eine neue europäische Erzählung zu finden.
Sozialpartnerschaft wieder stärken
Unternehmerische und soziale Verantwortung muss sich aus meiner Sicht zunächst darauf konzentrieren, die bereits erreichten und bewährten Standards in der Sozialen Marktwirtschaft zu erhalten. Die Sozialpartnerschaft von Arbeitnehmern und Arbeitgebern trägt zum sozialen Frieden bei, und Deutschland hat im internationalen Vergleich sehr geringe Streikzeiten. Wie wollen wir überzeugend global für Arbeitnehmerrechte und die Spielregeln der Sozialen Marktwirtschaft werben, wenn sich die Tarifbindung in Deutschland nur noch um 50% der Betriebe bewegt?
Global erhebliche Defizite bei Arbeitnehmerrechten
Aus meiner Sicht wäre es zudem erstrebenswert, Gewerkschaften und Tariflöhne auch in der Nachhaltigkeitsstrategie der EU für 2030 zu erwähnen, was bisher nicht der Fall ist. CSR bei global tätigen Unternehmen kann für mich nur dann eine Erfolgsgeschichte werden, wenn unter soziale Verantwortung auch bestehende Arbeitnehmerrechte mit eingeschlossen werden. Die Untersuchung »Globaler Rechtsindex 2019« des Internationalen Gewerkschaftsbundes von 145 Ländern hat ergeben, dass in 107 Länder Gewerkschaften nicht erlaubt sind. Auch große europäische Staaten wie Frankreich kamen in dieser Untersuchung nur in die zweitbeste Kategorie und Spanien in die drittbeste Stufe, Belgien verlor eine Stufe. Das zeigt klar, dass sogar in Europa Spielraum für Verbesserungen besteht. In Kroatien verbot das oberste Gericht den Streik bei einer Fluggesellschaft. International ist die Lage noch viel schwieriger, wie die Studie zeigt: In Asien werden Streiks häufig unterdrückt, dürfen Arbeitnehmer nicht demonstrieren, gegen protestierende Arbeiter wird mitunter die Polizei eingesetzt, z.B. in Vietnam oder Indonesien. In China sind unabhängige Gewerkschaften verboten und Gründungsversuche werden hart verfolgt. Es ist schwierig, hier Anreize für eine umfassende CSR-Berichterstattung durch global tätige Konzerne zu setzen, wenn das darauf hinauslaufen müsste, dass diese dokumentieren müssten, dass im Ausland oder bei Geschäftspartnern teilweise keine Arbeitnehmerrechte existieren, weil Staaten dies nicht erlauben.
Klimawandel: Streit ja, soziale Spaltung nein
Beim Thema Klimawandel macht mich die zuletzt immer stärker werdende politische und soziale Polarisierung besorgt. Der Erhalt von gutbezahlten Industriearbeitsplätzen ist mir ein Herzensanliegen. Ein Reizthema sind hier vor allem die hohen Energiepreise für die Wirtschaft, die auch von Gewerkschaftsseite moniert werden. Meine Heimat Nordrhein-Westfalen sowie das Ruhrgebiet möchte ich als eine führende Industrieregion Europas erhalten, auch wenn der Strukturwandel im Ruhrgebiet schon viel verändert hat. Die Wertschöpfung in der Industrie bleibt zentral für unseren Wohlstand. Es ist fatal, wenn die Lebenswelten von Industriearbeiternehmern von ökologisch bewegten Aktivisten fast als Fremdkörper in der Gesellschaft angesehen werden, den es zu bekämpfen gilt. Ohne Industrie und Technologie sind viele Nachhaltigkeitsziele nicht zu erreichen. Hier müssen sich die Unternehmen aber geschickter in die gesellschaftlichen Debatten einbringen. Industrie und ihre Arbeitnehmer müssen als Partner – und nicht als soziale Gegner – gesehen werden, mit Innovationen und Technologie nachhaltiger und effizienter bei Energie- und Ressourcenverbrauch zu werden. Innovationen bei Material, Fertigung und Produktion werden helfen, Nachhaltigkeitsziele zu erreichen. Und für den Ausbau erneuerbarer Energien fehlen immer noch viele hunderte Kilometer neue Stromtrassen. Hier braucht es Veränderungen beim Planungsrecht.
Lokale Beispiele für CSR im Ruhrgebiet
Im Ruhrgebiet haben Kommunen, Wirtschaftsförderung in Verbindung mit dem Landesministerium für Wirtschaft CSR-Ruhr auf die Beine gestellt – gefördert aus EU-Mitteln. Hier werden Weiterbildung und Vernetzung angeboten, um lokal und regional zu halfen, CSR auch jenseits der großen Unternehmen umzusetzen. Dieses Vorbild belegt, dass auch die kommunale Ebene beim Thema Nachhaltigkeit mit eigenen Initiativen und Bürgerbeteiligung Akzente setzen kann. Ich hoffe, dass dieses Modell Nachahmung und weitere Verbreitung findet.
Industriepolitisch ist mir wichtig, dass das Thema Nachhaltigkeit nicht nur als Spezialthema von Öko-Experten abgehandelt wird, sondern dass es um industrielle Innovationsprozesse geht. Die EU ist stark, z.B. mit der Ökodesign-Richtlinie Stromeinsparungen bei Endprodukten für Konsumenten durchzusetzen. Notwendig ist auch, dass in der Industrie bei Fertigungsprozessen die Energieeffizienz gesteigert wird. Aktuell liegt das Ziel bei der Ressourceneffizienzsteigerung bei 30% bis 2030. Nötig sind hier vor allem innerindustrielle Debatten und bessere Fertigungsstandards, ökologisch vorteilhafte Industriestandards, die zugleich effizientes Wirtschaften ermöglichen. Unsere exzellenten Ingenieure in Deutschland werden hier gebraucht. Hingegen ist es der falsche Weg, eine überholte Technikskepsis wieder zu aktivieren und neue Zukunftsängste zu verbreiten. Denn es kann nicht alles mit ökologischen und moralischen Appellen an den Endverbrauchern erreicht werden, sparsamer zu leben. Ich plädiere dafür, das berechtigte Thema Klimaschutz nicht so anzugehen, dass gesellschaftlich ein Rückfall in eine neue Frontenbildung stattfindet und im Gesamtsozialklima neue Spaltungen auftreten. Die Aufgabe von Politik ist es, Mehrheiten zu gewinnen und Konsens auszuloten, aber nicht die Bürger moralisch gegeneinander aufzubringen.
Unternehmen müssen Spielräume nutzen
Es zeigt sich, dass noch ein weiter Weg zurückzulegen sein wird, um normale Rechte für Arbeitnehmer und Gewerkschafter in vielen Ländern zu verankern, in internationalen Verträgen und in Selbstverpflichtungen der Wirtschaft zu implementieren. Nicht alle Weltregionen sind so restriktiv gegenüber Gewerkschaften wie autoritäre Staaten in Asien. Es gibt Spielräume für international tätige Unternehmen, solide Arbeitnehmerrechte einzuhalten, z.B. in Südamerika. Es wäre wünschenswert, wenn Großunternehmen, aber auch global tätige mittelständische Unternehmen, hier die freiwillige oder vorgeschriebene Berichterstattung über ihre CSR Aktivitäten nutzen, um eine Vorreiterrolle auch bei sozialen Anliegen einzunehmen, damit Nachhaltigkeit, Ökologie und soziale Rechte positiv miteinander verbunden werden. Ich bin mir sicher, dass in Zukunft in der Gesellschaft dafür um Zustimmung geworben werden kann und auch in der Politik Mehrheiten für diese Ziele erreicht werden können.
Beitrag in den Europa-Nachrichten Nr. 1 vom 23.1.2020
Für den Inhalt sind die Autor*innen des jeweiligen Beitrags verantwortlich.
Autor
Dennis Radtke (CDU), MdEP, aus Bochum (Ruhrgebiet), 40 Jahre alt, gelernter Industriekaufmann und Gewerkschaftssekretär. Dennis Radtke ist seit 2017 Mitglied des Europäischen Parlaments. Dort ist er seit Juli 2019 Koordinator der EVP-Fraktion im Ausschuss für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten (EMPL). Radtke ist zudem stellv. Bundesvorsitzender der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA) Deutschlands, Landesvorsitzender der CDA NRW und Mitglied des Landesvorstandes der CDU NRW.
Kontakt: buero@dennis-radtke.eu
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