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Nationaler Bestandsschutz statt europäischem Gestaltungswillen: Die hausgemachte Diskriminierung europäisch Engagierter im Gemeinnützigkeitsrecht
Fazit und hoffnungsvoller Ausblick
Endnoten
Autor
Redaktion
Treffen sich ein Franzose, ein Engländer und ein Deutscher und fragen sich, welche die jeweils wichtigste Institution für ihre Zivilgesellschaften ist. Sagt der Engländer sofort: »Das Office for Civil Society mit der Charity Commission«. Der Franzose überlegt kurz und meint: »Unser Wirtschafts-, Sozial- und Umweltrat CESE«. Der Deutsche schaut betreten zu Boden und sagt verlegen: »Das Finanzamt«.
Im Nachgang der Entscheidung des Bundesfinanzhofs zur Aberkennung der Gemeinnützigkeit von Attac hat die Diskussion über eine Reform des deutschen Gemeinnützigkeitsrechts eine bemerkenswerte Öffentlichkeit erfahren. Sie hat auch in der europäischen Debatte um »shrinking civic spaces« viel Staub aufgewirbelt. Die Zeit des Coronavirus-bedingten Lockdowns des öffentlichen Raums hat diese Diskussion um grundsätzliche Fragen zivilgesellschaftlicher Unterstützungsbedarfe erweitert. Sie umfasst ein breites Spektrum an Themen und Zugängen: Es reicht von grundsätzlichen Fragen zum Gemeinwohl- und Demokratieverständnis in Deutschland bis zu Detailfragen der zu reformierenden Regelungen.
Im Zentrum steht – ausgehend vom Urteil des Bundesfinanzhofs – die Frage, wie politisch Zivilgesellschaft sein darf oder soll. Dazu gehört das gemeinsame Verständnis der Rolle und Verantwortung der Zivilgesellschaft in der demokratischen Willensbildung. Solange der Gemeinnützigkeitsstatus nach deutscher Abgabenordnung der zivilgesellschaftliche Lackmustest bleibt und über Zugänge zu Fördermitteln und Steuervorteile entscheidet, zielen die meisten Vorschläge auf eine Erweiterung oder Spezifizierung des Zweckkataloges nach §52 AO; es werden aber auch Möglichkeiten der Erweiterung des Vereinsrechts um den Gemeinwohlbegriff oder neue Körperschaftsformen ins Spiel gebracht. Diese Diskussion trifft auf einen sich über die letzten Jahre fortgeschriebenen Themenkatalog der Engagementdebatte in Deutschland rund um die Schlagworte Entbürokratisierung, Monetarisierung und Transparenz. Daraus fließen zahlreiche Forderungen in die Reformdiskussion des Gemeinnützigkeitsrechts ein wie etwa die Reduktion der Vorschriften und Auflagen, abgestufte Sanktionierungen, eigenständige Regelungen für Sozialunternehmer*innen oder ein bundesweites Vereins- oder Lobbyregister für den gemeinnützigen Bereich.
In Erwartung des angekündigten Gesetzentwurfs zur Reform des Gemeinnützigkeitsrechts aus dem Bundesfinanzministerium sind Hintergründe und Argumente der Debatte vielfältig ausgetauscht und dokumentiert. Nur die europäische Ebene ist in dieser Debatte vollständig ausgeblendet. Dabei läge es auf der Hand, sie miteinzubeziehen: Das bürgerschaftliche Engagement macht nicht an Grenzen halt. Es ist auf vielen Ebenen internationaler geworden. Viele große Themenbereiche der Zivilgesellschaft entziehen sich der Lösungsfähigkeit einzelner Nationalstaaten, so etwa der Klimawandel, Migration und Flucht, die eingeschränkten Handlungsräume für zivilgesellschaftliches Engagement (»shrinking spaces«) und die Bedrohung von Demokratie und Rechtstaatlichkeit mit dem Erstarken der politischen Rechten in Europa sowie nicht zuletzt auch die Folgen der Corona-Pandemie. In grenzüberschreitenden Kooperationen liegen die effektivsten Möglichkeiten zur Bewältigung dieser Herausforderungen. Die Landschaft europäischer Netzwerke der Zivilgesellschaft hat sich entsprechend ausdifferenziert und vergrößert mit zahlreichen neuen Akteuren, die ihren Austausch und ihre Aktivitäten digital organisieren.
Dieser Entwicklung wird ein Verharren gemeinnützigkeitsrechtlicher Regelungen allein in nationalstaatlichen Traditionsmustern nicht gerecht. Vielmehr: Dieses Verharren behindert das grenzüberschreitende Engagement des gemeinnützigen Sektors in einem europäischen Binnenmarkt. Auch wenn die meisten Gemeinnützigkeits- und Spendenrechte der EU-Staaten transnationale Aktivitäten der Zivilgesellschaft nicht ausschließen, werden ausländische Organisationen oft von Steuervergünstigungen ausgenommen. Für Aktivitäten im Ausland müssten sie aufgrund fehlender Abkommen eine zusätzliche Gemeinnützigkeitsanerkennung durchlaufen. Andersherum sind Spenden an ausländische Organisationen in der Praxis häufig deshalb nicht abzugsfähig, weil die Finanzämter den Gemeinnützigkeitsstatus ausländischer Empfänger nicht prüfen können oder wollen. Die Möglichkeit, sich jenseits nationalstaatlicher Rechtsrahmen in einem europäischen Verein oder einer Stiftung zu organisieren, steht der europäischen Zivilgesellschaft erst gar nicht zur Verfügung.
Nationaler Bestandsschutz statt europäischem Gestaltungswillen: Die hausgemachte Diskriminierung europäisch Engagierter im Gemeinnützigkeitsrecht
Es ist nicht nur ein Appell, europäische Fragen bei der Debatte um das Gemeinnützigkeitsrecht in Deutschland zu berücksichtigen. Es besteht eine europarechtliche Notwendigkeit. Zwar gehört das Gemeinnützigkeits- und Spendenrecht nicht in den Kompetenzbereich der Europäischen Union, aber die Nationalstaaten sind bei ihrer Gesetzgebung verpflichtet, sich an den Grundfreiheiten des europäischen Binnenmarkts zu orientieren[1].
Dieser Verpflichtung ist Deutschland in seinem Gemeinnützigkeitsrecht bisher nur zögerlich und unzureichend nachgekommen. Es geschah auch nicht freiwillig, sondern erst nach Aufforderungen durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH) als Folge von Rechtsstreitigkeiten: In der Rechtssache Stauffer[2] (2006) sah der EuGH in der Aberkennung der Steuerbefreiung einer italienischen Stiftung durch die Stadt München einen Verstoß gegen die Kapitalverkehrsfreiheit. Im Fall Jundt [3] (2007) entschied der EuGH, dass im Sinne der Dienstleistungsfreiheit steuerliche Vergünstigungen bei Aufwandentschädigungen auch für im EU-Ausland geleistete Tätigkeiten bei einer gemeinnützigen Einrichtung angerechnet werden müssen. In der Rechtssache Persche[4] (2009) wurde entschieden, dass Spenden auch dann steuerlich abzugsfähig sein müssen, wenn sie an eine gemeinnützige Organisation im EU-Ausland getätigt werden.
Insgesamt müsste mit der Rechtsprechung des EuGH unterstrichen werden, dass sich auch gemeinnützige Organisationen, die dort Engagierten und ihre Förderer auf den Schutz ihrer Grundfreiheiten (im Rahmen ihrer wirtschaftlichen Tätigkeiten: Niederlassungsfreiheit, Dienstleistungsfreiheit, Kapitalverkehrsfreiheit, Arbeitnehmerfreizügigkeit; im ideellen Bereich: Freizügigkeitsrecht) berufen können. Die Gerichtsentscheidungen bewirkten bisher aber nur punktuelle Angleichungen des Gemeinnützigkeitsrechts in den Mitgliedstaaten – von Fall zu Fall. Es ist zu erwarten, dass noch weitere Fälle vor dem EuGH in ähnlichen Sachen verhandelt werden. Sicherlich sind diese auch nur die Spitze des Eisbergs.[5]
Dass der Europäische Gerichtshof damit unterschwellig das Verständnis zivilgesellschaftlichen Handelns in Europa schärfen und Rahmenbedingungen des europäischen Engagements gegenüber dem Gesetzgeber durchsetzen muss, ist ein unwürdiger Prozess. Es steht im deutlichen Gegensatz zur Bedeutung der Zivilgesellschaft für die Demokratie und den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Europa. Es widerspricht der Grundrechtecharta der EU und der darin enthaltenden Vereinigungsfreiheit. Und es erschwert die Umsetzung und weitere Auslegung von Art. 11 EUV, der Grundzüge der partizipativen Demokratie in Europa und die Rolle der Zivilgesellschaft festlegt.
Dass der Europäische Gerichtshof damit unterschwellig das Verständnis zivilgesellschaftlichen Handelns in Europa schärfen und Rahmenbedingungen des europäischen Engagements gegenüber dem Gesetzgeber durchsetzen muss, ist ein unwürdiger Prozess. Es steht im deutlichen Gegensatz zur Bedeutung der Zivilgesellschaft für die Demokratie und den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Europa. Es widerspricht der Grundrechtecharta der EU und der darin enthaltenden Vereinigungsfreiheit. Und es erschwert die Umsetzung und weitere Auslegung von Art. 11 EUV, der Grundzüge der partizipativen Demokratie in Europa und die Rolle der Zivilgesellschaft festlegt.
Es hat in der Vergangenheit Ansätze gegeben, dem gemeinnützigen Sektor auf EU-Ebene einen verlässlichen Handlungsrahmen zu geben. Dazu zählen in erster Linie die Vorschläge von EU-Kommission und Parlament für ein Europäisches Stiftungsstatut und ein Europäisches Vereinsstatut. Beide Vorhaben sind am Veto der Mitgliedstaaten gescheitert; die Gründe dafür lassen sich in beiden Fällen nicht zuletzt auf die Einschätzung zurückführen, die neuen europäischen Körperschaften seien in bestimmten Fragen nicht kompatibel mit den nationalen Gemeinnützigkeitsregelungen.[6]
Sicherlich stellt die Entwicklung eines gemeinsamen europäischen Verständnisses zum Gemeinwohl und der Rolle der Zivilgesellschaft unter 27 höchst unterschiedlichen nationalen Traditionslinien und Rechtsetzungen ein dickes Brett dar. Aber vergleichende Studien gemeinnützigkeitsrechtlicher Regelungen legen nahe, dass die strukturellen Übereinstimmungen durchaus groß sind und dass »fast jedes deutsche gemeinnützigkeitsrechtliche Problem seine Entsprechung in anderen Rechtsordnungen hat«[7]. Proaktiv einen Weg zur Harmonisierung der Gemeinnützigkeit in Europa einzuschlagen sollte dem Interesse politischer Steuerung doch eher entsprechen als das absehbare Hinterherlaufen hinter höchstrichterlichen Vorgaben aus dem EuGH.
Doch nicht nur den deutschen Bundesregierungen, auch der deutschen verbandlich organisierten Zivilgesellschaft kann man nicht unterstellen, im Hinblick auf die Verbesserung gesamteuropäischer Rahmenbedingungen für bürgerschaftliches Engagement in der Vergangenheit außerordentlich engagiert gewesen zu sein. Die Positionierung aus dem Stiftungssektor zum Europäischen Stiftungsstatut und aus dem Verbandsbereich zum Europäischen Vereinsstatut jedenfalls legen nahe, dass auch hier die Befürchtungen von Statusverlust und Konkurrenz gegenüber einem proaktiv europäischen Beitrag überwogen haben.
Fazit und hoffnungsvoller Ausblick
Eine sich zunehmend europäisierende Zivilgesellschaft braucht europäisch vergleichbare und überall anwendbare Rahmenbedingungen. Nun kann und soll aus diesem kleinen Beitrag kein Plädoyer für die Entwicklung eines eigenständigen europäischen Gemeinnützigkeitsrechts werden. Aber eine Reformdebatte zum Gemeinnützigkeitsrecht in Deutschland, die den Bedarf an Regelungen für das grenzüberschreitende Engagement und die europäische Zivilgesellschaft ausblendet, wird der Verantwortung des größten Mitgliedstaates der EU mit rund 80 Millionen EU-Bürger*innen nicht gerecht. Erst recht nicht in einer Zeit, in der es auf eben jene europäische Zivilgesellschaft ankommen wird, die Union zusammen zu halten. Am 1. Juli dieses Jahres übernimmt Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft. Es wäre ein großes und wichtiges Signal und entspräche der Vorbildfunktion Deutschlands, wenn wir unsere eigene zivilgesellschaftliche Reformdebatte europäisch führen würden. In einem ersten Schritt könnte das europäische Engagement im Rahmen der Reform des deutschen Gemeinnützigkeitsrechts Berücksichtigung finden und festgelegt werden, wie Spenden aus dem EU-Ausland behandelt werden und in Deutschland registrierte Organisationen sich im Ausland engagieren können. Im Rahmen der Agenda der Bundesregierung für die Ratspräsidentschaft könnte dann ein Austauschprozess über Gemeinnützigkeit auf europäischer Ebene neu angestoßen werden. Darin sollte auch die neue Initiative aus dem Europäischen Parlament für ein Europäisches Vereinsstatut[8] aufgegriffen und begleitet werden.
Endnoten
[1] Die Nationalstaaten müssen sich im Gemeinnützigkeitsrecht auf der anderen Seite auch am EU-Wettbewerbsrecht und dem Beihilfenverbot orientieren. Dieses hat in der Vergangenheit – aufgrund eines fehlenden Gemeinnützigkeitsbegriffs in der EU-Rechtsetzung - zu Kontroversen über die Besserstellung gemeinnütziger Organisationen gegenüber ihren privatwirtschaftlichen Mitbewerbern geführt. Peter Fischer setzt sich mit dieser Frage in einem kürzlich in den BBE-Europa-Nachrichten 04/2020 veröffentlichten Beitrag auseinander und schlussfolgert »Aus einer Zusammenschau von Einzelnormen des europäischen Primär- und Sekundärrechts und einem rechtsvergleichenden Blick auf die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen werden Konturen einer gemeineuropäischen Gemeinnützigkeit deutlich.« https://www.b-b-e.de/fileadmin/Redaktion/05_Newsletter/01_BBE_Newsletter/2020/4/enl-4-2020-fischer-beitrag.pdf
[2] https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/ALL/?uri=CELEX%3A62004CJ0386
[3] http://curia.europa.eu/juris/liste.jsf?language=de&num=C-281/06
[4] https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/ALL/?uri=CELEX%3A62007CJ0318
[5] Dass ein signifikanter Bedarf an transnationalen Regelungen besteht, zeigt u.a. das Netzwerk »Transnational Giving Europe«: https://www.transnationalgiving.eu/
[6] Zur Diskussion um das Europäische Vereinsstatut vgl. Markus Held, Engagementpolitik der EU, 2010: 419; zum Europäischen Stiftungsstaut vgl. Claudia Lindner, Grundlagen eines europäischen Gemeinnützigkeitsstatuts, 2017: 60f
[7] Walz/von Auer/von Hippel: Spenden- und Gemeinnützigkeitsrecht in Europa, 2007: 123
[8] Vgl, den Beitrag von Sergey Lagodinsky in den BBE-Europa-Nachrichten 04/2020
Beitrag im Newsletter Nr. 12 vom 18.6.2020
Für den Inhalt sind die Autor*innen des jeweiligen Beitrags verantwortlich.
Autor
Mirko Schwärzel leitet die Europäische Netzwerkstelle im Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement (BBE). Er ist seit 2009 für die Europaarbeit des BBE tätig und hat das Netzwerk u.a. in den Vorständen des Europäischen Freiwilligenzentrums CEV und dem European Civic Forum vertreten.
Kontakt: mirko.schwaerzel@b-b-e.de
Redaktion
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